4. Wissenschaft und Poetik


JR: Dieser Zusammenhang von Konkretem und Abstraktem, von Alltag und Weltgeschichte, von Liebe und Fortschritt – das ist ja einer, bei dem es, wenn man sie streng wissenschaftlich untersuchen will, stark darauf ankommt, Dinge danach zu unterscheiden, ob man sie ausrechnen kann oder nicht. Hier kommt die Sache mit dem Computer rein, richtig?

DD: Ja, der ganze Handlungsstrang mit Paul und dem Zellulären Automaten – da geht es um die Frage der Irreduzibilität. Auf deutsch: Wie einfach darf man schwierige Sachen betrachten? Man muß sie ja vereinfachen, wenn man sie verändern will, um die Hebelpunkte zu finden – wenn alles nur immer superkompliziert ist, wenn man immer alle Alternativen sieht, wenn man stets sämtlichen Menschen in allen Punkten gerecht werden will, dann ist man gelähmt, dann gibt es keine Politik, keine Geschichte …

JR: Keine Liebe. Wen ich nicht alle andern Menschen weniger faszinierend finde, also ihre vielen anziehenden Eigenschaften nicht ausblenden kann, werde ich mich nicht in diese eine konkrete Person verknallen können.

DD: Ja, und alles hat Vor- und Nachteile, also wie soll ich mich entscheiden? Das geht nur praktisch, das geht nur über Reduktion. Und da kommt die Aufgabe der Modellbildung ins Spiel – was darf ich weglassen? Darüber denken vor allem Computerleute heute nach, so wie zu Diracs Zeiten vor allem mathematische Physiker darüber nachgedacht haben. Die besten Bücher zu diesem Thema, die ich kenne, sind erstens sämtliche Werke von Gregory Chaitin, zweitens „A New Kind of Science“ von Stephen Wolfram und drittens, wohl das lockerste, am leichtesten verständliche Buch auf dieser Liste, „The Lifebox, the Sheashell and the Soul“ von Rudy Rucker. Ich denke, das alles geht mit Leibniz los – manche datieren es noch weiter zurück, aber da werden die Sachen dann teilweise so … das ist so zugewuchert von nicht mehr nachvollziehbarer Historie, da spielt dann Theologie mit rein und vieles andere, das von heute aus gesehen nur mehr schwer zu entziffern ist. Also: Leibniz bis Stephen Wolfram, das wäre meine Lese-Empfehlung, wenn man da tiefer einsteigen will. Die Sache ist jedenfalls noch nicht fertig – und wie es irgendwo bei Stanislaw Lem mal heißt, die mathematische Beschreibung der Welt ist deshalb noch nicht abgeschlossen, weil die Schöpfung selbst, die Welt als solche, noch gar nicht abgeschlossen ist.

JR: Intellektuell gesehen ringen alle deine Figuren in „Dirac“ genau um diese Einsicht.

DD: Ja, und nur Dirac selber meistert sie wirklich in allen ihren Implikationen, intellektuell gesehen. Aber es gibt natürlich noch eine andere Art, diesen Gedanken zu begreifen, als die intellektuelle: Sinnlich, unmittelbar, als direkte Voraussetzung des eigenen Verhaltens gegenüber anderen Menschen, die man liebt oder nicht.

JR: Du meinst Nicole.

DD: Ja. Sie ist die einzige Figur des Romans, die Dirac ebenbürtig ist, in diesem Punkt. Sie hat verstanden, was er verstanden hat – ganz ohne wissenschaftliche Ausbildung, einfach durch eine Aufrichtigkeit, die sich nie und nirgends etwas vormachen will. Alles begreifen: Das läuft nicht ohne Liebe.

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5. Vorläufige Moral

Aus dem Sechsten Kapitel gefallen

Aus dem Siebten Kapitel gefallen

Aus dem Zwanzigsten und dem Zweiundzwanzigsten Kapitel gefallen

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