5. Vorläufige Moral


JR: Du hast vorhin Lem zitiert: „Die Beschreibung der Welt ist noch nicht abgeschlossen, weil die Schöpfung selbst, die Welt als solche, noch nicht abgeschlossen ist“ – darauf bezieht sich diese Formulierung der „Vorläufigkeit des Wissens“, die sozusagen die Moral deines Buches betrifft, richtig?

DD: Ich denke mir das so: Man muß einerseits nach dem handeln, was man weiß, aber man darf andererseits nie vergessen, daß man längst nicht alles weiß. Also nicht Skepsis im Sinne von Ausreden fürs Nichtstun, im Sinne von Zweifelsucht oder Empiriokritizismus … aber wenn man mit dem Vorhaben der Aufklärung sympathisiert, den Humbug beiseitezuschaffen, dann muß man ehrlich zugeben, daß man mit der Abgeschlossenheit, Gewissheit und den anderen schönen Sachen nicht konkurrieren kann, die eine Offenbarungswahrheit so anbietet. Die Aufklärung kann keine Bibel schreiben, sie kann bloß eine erschüttern. Das ist nicht nur ein ethisches Prinzip, das ist auch ein …

JR: Ästhetisches, klar. „Vorläufiges Endergebnis“: So wie Marcel Broodthaers in diesem kleinen Film, wo er im Regen auf ein Papier schreibt und es wird schon weggewaschen, während er schreibt. Das war mal auf dem Cover von Texte zur Kunst, vor über zehn Jahren.

DD: Ja, gab’s auch schon bei den englischen Romantikern – „here lies one whose name was writ in water“, Keats.

JR: Man könnte sogar sagen, wenn ich hier mal kurz auf mein Fachgebiet, die bildende Kunst, wechseln kann, daß die Wendung bei Broodthaers von der Poesie zur bildenden Kunst, von den bleibenden Versen für die Ewigkeit zu den flüchtigen Sachen, zu einem virtuellen Museum und so fort, eine Art operative Sichtbarmachung dieses …

DD: Kann man wahrscheinlich sagen, ja. Aber andererseits: Nur weil die Wissenschaft und die moderne Kunst vorläufiger gedacht sind als Scholastik und die Pyramiden, heißt das nicht, daß die Ergebnisse von Wissenschaft und moderner Kunst nicht am Ende, wann immer das sein mag, zuletzt lachen, einfach weil ihre Reichweite größer ist.

JR: Was radikal auf den Augenblick paßt, wird, wenn es klappt, immer auf ihn gepasst haben, was aber die Ewigkeit packen will, könnte schnell für immer überholt sein.

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6. Weltaufgang


Aus dem Sechsten Kapitel gefallen

Aus dem Siebten Kapitel gefallen

Aus dem Zwanzigsten und dem Zweiundzwanzigsten Kapitel gefallen

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