1. Was ist das für ein Ding?


JR: Wie würdest du jemandem, der es ganz eilig hat, dein Buch erklären?

DD: Ich wollte mal was Lustiges, Trauriges und Wahres darüber schreiben, daß man sich ganz schön anstrengen muß, wenn man im modernen Alltag nicht spätestens mit Fünfunddreißig alles verraten haben will, was man mit Fünfzehn darüber gewußt hat, wie grundverkehrt das Leben läuft, in dieser übergeschnappten Moderne, in die wir da blindlings geraten sind. Dazu habe ich mir ein paar Heldinnen und Helden vorgenommen, die es in unterschiedlichem Ausmaß hingekriegt haben, sich vom Alltag nicht einschüchtern, zermürben oder dumm machen zu lassen. Diese Figuren werden gezeigt und begleitet bei der Liebe, bei der Arbeit, beim Lernen. Der Wichtigste unter ihnen ist der Physiker Paul Dirac, weil der, wie das Buch berichtet und erklärt, mit unbestechlichem Scharfsinn und gediegenstem Humor als junger Mensch seine Sache gefunden hat und dann bis zum letzten Atemzug bei dieser Sache geblieben ist, ohne je in Starrkrampf oder falschen Stolz zu verfallen.

JR: Was für eine „Sache“ ist das?

DD: Die vollständige Modernisierung der fundamentalsten Wissenschaft von den weltlichen Dingen, die wir kennen – der Physik. Dirac hat die Frage geklärt: Was ist das eigentlich, moderne mathematische Weltbeschreibung? Und zwar hat er sie nicht abstrakt, nicht irgendwie grübelnd als Philosoph geklärt, sondern ganz konkret, als Physiker – genau so, wie Marcel Duchamp oder Picasso die Frage geklärt haben, was moderne Kunst ist; genau so, wie Schönberg oder Albert Ayler die Frage geklärt haben, was moderne Musik ist. Das heißt: Diese fünf Leute haben ihr jeweiliges Arbeitszeug – Gleichungen, ausstellbare Ideen, Tonmaterial – zum Thema ihrer Arbeit gemacht, aber dabei nicht irgendwelche abgeleiteten Meta-Kommentare zu Kunst, Physik oder Musik hergestellt, sondern tatsächlich Kunst, Physik und Musik.

JR: Und dein Stellvertreter im Roman, dieser David Dalek, versucht etwas ähnliches?

DD: Nein, der will viel weniger. David möchte ein Buch über Dirac schreiben und schafft es nicht. Das liegt daran, daß er nicht wie ich ist; denn ich habe es ja geschafft. Die Antwort auf sein Problem befindet sich die ganze Zeit direkt vor seiner Nase: Er darf nicht Dirac alleine, isoliert, als sein Thema betrachten, sondern muß kapieren, daß sein Verhältnis zu Dirac das eigentliche Thema seines Buches ist. Man kann nämlich – Achtung, Berufsgeheimnis – gar kein interessantes Buch über einen toten Menschen schreiben, auch wenn viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller so tun. Man kann aber sehr wohl ein interessantes Buch darüber schreiben, was der jeweiligen Schriftstellerin oder dem Schriftsteller so ein toter Mensch heute bedeutet. Diese beiden Sachen darf man nicht verwechseln. David übersieht, daß seine Umwelt – die Verliebten, die Künstlerin, der Psychiater-Freund – von seinem Interesse an seinem Helden Dirac verwandelt wird. Seine Freundinnen und Freunde, die Menschen, die ihm die wichtigsten sind, versuchen, ihren Alltag auszuhalten und nicht von ihm aufgesogen zu werden, sie wollen Prinzipien oder Ideale oder Lebensweisen finden, die verhindern, daß sie abstumpfen oder sonstwie resignieren. Und genau das versucht David auch, deshalb schreibt er über einen Helden, der eben diese Prinzipien, Ideale und Lebensweisen in seiner Arbeit gefunden hat. Aber David erkennt nicht, daß er es hier mit etwas Allgemeinem zu tun hat, daß diese Sehnsucht, dieses Vorhaben der Rettung seiner eigenen Besonderheit vor der allgemeinen Anpassung und der Verblödung ihn mit den anderen Leuten, deren lustige, traurige und wahre Geschichten das Buch erzählt, eng verbindet. Er glaubt, er müsse sich, um den außergewöhnlichen Menschen Dirac zu verstehen, von seinen Lieben, von den Gleichaltrigen und ähnlich Verzweifelten entfernen. Aber je weiter er sich von ihnen entfernt, desto weiter entfernt er sich von seinem Buch. Er gerät immer mehr ins Abseits auf der Jagd nach dem Konkreten und Richtigen, er verfolgt am Ende völlig verrücktes Zeug wie die Spur der fliegenden Untertassen, er entgleist.

JR: Einige der anderen kommen durch, einige nicht. Man fiebert mit: Wer schafft es? Wer wird glücklich? Wer muß sterben?

DD: Sterben müssen alle; es kommt nur drauf an, daß man vorher wenigstens einmal den Moment erwischt hat, an dem es gilt: Hau auf die Trommel, sag die Wahrheit, trau dich, zu lieben.


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2. Kleines Leben, groß geschrieben


Aus dem Sechsten Kapitel gefallen

Aus dem Siebten Kapitel gefallen

Aus dem Zwanzigsten und dem Zweiundzwanzigsten Kapitel gefallen

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