Illustration: Kat Menschik











2. Kleines Leben, groß geschrieben


JR: Die Grenzen zwischen Autobiographischem und Phantastischem flirren teilweise ziemlich libellenmäßig durch das Buch. Was hast du denn nun wirklich erlebt von dem, was da erzählt ist?

DD: Na, alles natürlich. Zumindest am Schreibtisch, beim Dichten.

JR: Sehr originell. Im Ernst: Wieviel Prozent der echten Johanna Rauch stecken denn in der „Johanna Rauch“ des Buches, wieviel Prozent von Paul in „Paul“, wieviel Prozent Dietmar Dath in „David Dalek“?

DD: Also bei Dir und Paul, überhaupt bei allen Figuren, die nicht auf mir selbst basieren, geht’s immer um Dinge, die für das Phantasieren oder für die von Herrn Freud so getaufte „Traumarbeit“ typisch sind: Verschiebung, Verdichtung, Übertragung, Verleugnung … Paul zum Beispiel ist im echten Leben zwei verschiedene Männer, die Figur setzt sich zusammen aus fünfzig Prozent vom einen, vierzig vom andern und zehn Prozent freier Erfindung. Dasselbe gilt für die meisten anderen Leute aus den Passagen, die in den Achtzigern, Neunzigern und in der Gegenwart spielen.

JR: Dein Paul kommt ja schon im letzten Buch vor, „Die salzweißen Augen“ – heißt er eigentlich Paul wegen Paul Dirac?

DD: Nein, wegen Paul Foot, das war ein hervorragender britischer Sozialist, den ich immer wieder gern beklaue – die ganzen Touissant-Passagen in „Für immer in Honig“ zum Beispiel sind bei Paul Foot gemopst. Der Mann ist vor ein paar Jahren gestorben, war ein großer Propagandist für die britische trotzkistische „Socialist Workers Party“, mit der auch der Science-fiction-Autor China Mièville viel zu tun hat, den ich ebenfalls bewundere. Foot hat ein Buch über den englischen Romantiker Percy Bysshe Shelley geschrieben, „Red Shelley“ heißt es, das hat einen nicht zu überschätzenden Einfluß auf meine eigenen Vorstellungen davon gehabt, wie man ein linker politischer Schriftsteller sein kann.

JR: Aber du bist doch weder Romantiker noch Trotzkist?

DD: Nein, aber von klugen Leuten werde ich hoffentlich bis zum Tod oder Hirnverfall immer gerne was lernen, auch wenn sie Romantiker, Trotzkisten oder Zeugen Jehovas sind.

JR: Du hast vorhin gesagt: Bei allen Figuren, die nicht auf dir selbst basieren, geht’s um Mischungen und Veränderungen gegenüber der Wirklichkeit. David Dalek, der scheiternde Romanautor, basiert ja auf dir. Nochmal: Worum geht’s bei dieser Gestalt?

DD: Er ist ein abschreckendes Beispiel, ein schlechtes Vorbild. Was ich mit meinen Ich-Figuren in allen Büchern mache, in denen solche Ich-Figuren vorkommen, ist Folgendes: Sie kriegen ein Problem aufgebrummt, das ich auch habe, werden mit Waffen versorgt, die ich ebenfalls habe, und dann müssen sie das lösen, dann spiele ich das an ihnen durch. Ich mag den David ganz gern, aber er ist leider doch ein ziemlich verblendeter kleiner Spinner. Er schafft es nie, die Brücke zu schlagen zwischen seinem kleinen Leben und den großen wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Themen, die er sich vornimmt. In Davids Scheitern ist negativ ein Abdruck meiner Idee davon aufbewahrt, wie es gehen könnte.

JR: Warum artikulierst du diese Idee nicht positiv?

DD: Weil sie noch gar nicht fertig ist. Sie entsteht im Laufe dessen, was man ganz pompös Lebenswerk nennen könnte – vielleicht endet das ja nächste Woche, wenn ich aus Versehen vor einen Lastwagen laufe, aber Vorwegnehmen möchte ich das Ergebnis wirklich nur ungern.


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3. Unendlicher Zusammenhang


Aus dem Sechsten Kapitel gefallen

Aus dem Siebten Kapitel gefallen

Aus dem Zwanzigsten und dem Zweiundzwanzigsten Kapitel gefallen

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